Dienstag, 6. November 2018

Der Erste Weltkrieg im Bergsträßer Anzeigeblatt - Ausgesuchte Artikel und Annoncen - 29.07.1914 - Diplomatisches Zwischenspiel

Diplomatisches Zwischenspiel 

Die drohende Gefahr, daß sich aus der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Österreich-Ungarn und Serbien leicht ein allgemeiner europäischer Krieg entwickeln könnte, hat in den einflußreicheren diplomatischen Kreisen unseres Weltreiches eine lebhafte Tätigkeit hervorgerufen, um dieser Gefahr noch rechtzeitig zu begegnen. In bemerkenswerter Weise ist hierbei seitens der englischen Regierung die Initiative ergriffen worden. Sie ließ durch ihre Botschafter in Berlin, Ron und Paris die Anfrage bei den betreffenden Regierungen stellen, ob sie einer gemeinsamen Konferenz ihrer in London beglaubigten Botschafter mit dem englischen Minister des Auswärtigen Sir E. Grey zustimmen würden, Welche sich bemühen solle, Mittel zu einer Beilegung der gegenwärtigen politischen Schwierigkeiten zu finden. Gleichzeitig ist englischerseits eine weitere diplomatische Aktion bewerkstelligt worden, welche bezweckt, die österreichisch-ungarische, die russische und die serbische Regierung von dem englischen Konferenzvorschlag zu verständigen und die genannten Regierungen zur Einstellung aller militärischen Operationen bis zur Beendigung der Konferenz zu bewegen. Sir E. Grey gab zu dem Konferenzvorschlage der britischen Regierung in der Montagssitzung des Unterhauses eine längere Erklärung ab, woraus erhellt, daß der englische Premierminister ein Zusammenwirken der vier an der österreichisch-serbischen Frage nicht unmittelbar interessierten Mächte, nämlich Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Englands, als die einzige Chance zur Erhaltung des europäischen Friedens erachtet. Weiter meinte er, daß die serbische Antwort auf die österreichische Ultimatums-Note vielleicht wenigstens eine Grundlage darbieten könnte, auf welcher die Vermittelungs- und Einigungsbemühungen einsetzen könnten. Sir Edward Gren schloß seine Ausführungen mit dem ernsten Hinweis darauf, daß von dem Augenblick an, da eine andere Großmacht in den österreichisch-serbischen Konflikt verwickelt würde, dies zu einer der größten Katastrophen führen würde, die es jemals in Europa gegeben habe.
Sicherlich hat der englische Premierminister mit diesem Hinweis durchaus recht und es steht nur aufrichtig zu wünschen, daß der von ihm angeregte Versuch, auf dem Wege einer deutsch-französisch-italienisch-englischen Konferenz den kriegerischen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zu lokalisieren, von Erfolg begleitet sein möge. Wenn indessen Sir E. Grey der Meinung Ausdruck verliehen hat, die serbische Antwort an Österreich-Ungarn dürfte sich vielleicht als eine Grundlage für die Verhandlungen der geplanten Konferenz eignen, so sollte hierin wohl nur ein gewisses Wohlwollen für Serbien bekundet werden. Denn aus dem jetzt von Wiener amtlicher Seite im wesentlichen bekannt gegebenen Wortlaut der serbischen Antwortnote ist klar zu ersehen, daß Serbiens hierin enthaltenen 3ugeständnisse an die so schwer beleidigte habsburgische Monarchie durch die hierbei gemachten Vorbehalte und Einschränkungen nahezu völlig wertlos für den Teil waren. Um so mehr Bedeutung wird der Vermittelungsaktion der vier Mächte zukommen, sie kann aber nur dann wirklichen Erfolg erzielen, wenn Rußland seine bisherige zweideutige Haltung in dem österreichisch-serbischen Konflikt endlich aufgibt und sich ehrlich mit auf die Seite der Friedensfreunde stellt. Im übrigen ist noch die Nachricht zu verzeichnen, daß bislang Frankreich rückhaltlos dem englischen Konferenzvorschlag zugestimmt hat. Schließlich steht wohl zu erwarten, daß Kaiser Wilhelm, nachdem er von seiner Nordlandsfahrt im Neuen Palais eingetroffen ist, sein gewichtiges Wort im Sinne der Wahrung des Völkerfriedens Europas geltend machen wird, welche Erwartung sogar die Chauvinisten an der Seine hegen. Die „Kölnische Zeitung“ meldet aus Berlin: Der Wunsch der Westmächte, durch eine rechtzeitig vermittelnde Einwirkung ein Übergreifen des österreichischen Streites mit Serbien auf das Verhältnis zwischen den Großmächten zu verhüten, wird von der deutschen Politik nicht nur in platonischer Weise gehegt, sondern das Berliner Kabinett ist bereits in mehr als einer Hauptstadt für die Zwecke einer den europäischen Frieden sichernden Vermittlung tätig gewesen. Man begrüßt hier, daß jetzt durch die Initiative Grens der Vermittlungsgedanke amtliche Gestalt angenommen und der Öffentlichkeit zur Erörterung gestellt worden ist. Es machen sich aber Zweifel geltend, ob als Organ für die Vermittlung eine Konferenz von vier Großmächten ein geeignetes Auskunftsmittel darstellt und daß man die Einzelheiten des österreichisch-serbischen Streites die lediglich beide Staaten angehen, nicht vor das Forum einer Konferenz ziehen kann; darüber herrscht wohl allgemein Übereinstimmung. Aber auch was die rechtzeitige Beseitigung der zwischen Österreich-Ungarn und Rußland etwa aufkeimenden Schwierigkeiten betrifft, muß die Frage aufgeworfen werden, ob die Regierungen dieser beiden Mächte gewillt sind, die Konferenz der vier anderen Großmächte mit einer amtlichen Vermittlung zu betrauen. Es scheint für das Gelingen der Vermittlung zweckmäßiger, wenn man die Mittel dafür möglichst einfach gestaltet und sich in unmittelbarem Verkehr mit den Hauptstädten der beteiligten Reiche der fortlaufenden diplomatischen Erörterungen und Einwirkung bedient, um ein vermittelndes Vorgehen bis zu dem allseitig gewünschten Ergebnis durchzuführen. Bei der Benutzung dieses Weges würde Deutschland es an der den Westmächten schon bewiesenen Mitwirkung auch weiterhin nicht fehlen lassen. Inzwischen wurde von Österreich offiziell der Krieg erklärt. Das Wiener Korrespondenz-Bureau meldet: Wien, 28. Juli. Auf Grund Allerhöchster Entschließung Seiner k. und k. apostolischen Majestät vom 28. Juli 1914 wurde heute an die königlich serbische Regierung eine in französischer Sprache abgefaßte Kriegserklärung gerichtet, welche in deutscher Übersetzung folgendermaßen lautet: Da die königlich serbische Regierung die Note, welche ihr vom österreichisch-ungarischen Gesandten in Belgrad am 23. Juli 1914 übergeben worden war, nicht in befriedigender Weise beantwortet hat, so sieht sich die k. und k. Regierung in die Notwendigkeit versetzt, selbst für die Wahrung ihrer Rechte und Interesse Sorge zu tragen und zu diesen Ende an die Gewalt der Waffen zu appellieren. Österreich-Ungarn betrachtet sich daher von diesem Augenblicke an als im Kriegszustand mit Serbien befindlich. Der österreichisch-ungarische Minister des Äußeren Graf Bechtold.
Belgrad, 28. Juli. Nach einer ergänzenden Mobilisierungsorder sind in Serbien alle Wehrpflichtigen vom 18. bis zum 60. Lebensjahr einberufen worden. Das bedeutet also eine allgemeine Mobilisierung. Das Hauptquartier befindet sich in Nisch. Die Mobilisierung schreitet rasch vorwärts. In Belgrad herrscht nach dem ersten Rausch eine ernste nüchterne Stimmung. Die Zeitungen schreiben, der Frieden sei noch nicht endgültig verloren.
Wien, 27. Juli. (W. B.) Bei Temeskubin beschossen serbische Truppen, die sich auf einem Donaudampfer befanden, von dem Schiffe aus österreichische Truppen. Das Feuer wurde erwidert. Es entspann sich ein größeres Geplänkel.
Wien, 28. Juli. Die österreichischen Truppen haben die Ungarische Grenze überschritten und mit dem Vormarsch nach Mitrovitza den programmmäßigen Punkt erreicht. Die Serben sind überall zu rückgeworfen worden. In Wien wurde die Nachricht von dem Ausbruch der Feindseligkeiten mit großem Jubel aufgenommen. Mitrovitza ist ein ungarischer Grenzort an der Save und hat ungefähr 12000 Einwohner. Eine weitere Wiener Meldung besagt, auf der Donau bei Kozemo wurde ein serbischer Truppentransport auf dem Dampfer „Wardar“ und „Zar Nikolaus“ von der österreichischen Bootsflotille aufgebracht.. Hier wurden die ersten serbischen Gefangenen gemacht.
Wien, 28. Juli. Wie die „Vossische Zeitung“ aus authentischer Quelle meldet, wird Erzherzog Friedrich, dem jüngst die militärischen Funktionen des ermordeten Erzherzogs Franz Ferdinand übertragen worden sind, das Oberkommando über die österreichische Armee gegen Serbien im Auftrage des Kaisers übernehmen.
Das Berliner Tageblatt meldet aus Bodenbach: Der serbische General Marinowitsch, der gestern von Karlsbad kommend, auf dem Bahnhof Marienbad eintraf, wurde von der Polizei verhaftet, auf Anordnung von Wien jedoch wieder freigelassen.
Wien, 27. Juli. Der Patriotismus der Monarchie gibt sich in opferwilliger Bereitschaft aller Bevölkerungsschichten, insbesondere in zahlreichen Spenden und Sammlungen für die im Felde stehenden Soldaten und die Familien der eingerückten Reserven kund. Für diese nimmt das Kriegsministerium alle Gaben entgegen. Die Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs erläßt einen Aufruf zu einer großen Frauenhilfsaktion, Welche Unter anderem bezweckt; Schaffung eines Hilfsfonds, sowie Verdienstmöglichkeiten für die subsistenzlos gewordenen Frauen von Reservisten, Schaffung von Freitischen und Freimarken für die wichtigen Lebensmittel. Die deutschen Studenten in Prag haben beschlossen, eine Sammelstelle für das österreichische Rote Kreuz zu errichten. Die böhmische Ärzteschaft hat zur Organisation einer ärztlichen Hilfsaktion aufgefordert. – Der 62 Jahre alte Präsident des Herrenhauses, Fürst zu Windisch Grätz, der Major der Landwehr ist, meldete sich beim Landesverteidigungsminister zum freiwilligen Truppendienst in der Front. Auch das 54jährige Mitglied des Herrenhauses, Fürst Karl Auersperg, hat sich entschlossen, gleichzeitig mit seinem zur Truppe einberufenen Sohne freiwillig einzurücken. – Die Firma Gebrüder Gumann-Wien spendete für Zwecke des Roten Kreuzes 100 000 Kronen.
Wien, 28. Juli. Nach den vorliegenden Nachrichten erfolgt noch keine Mobilisierung Rußlands. Ferner wird gegenüber verschiedenen Gerüchten darauf hingewiesen, daß keine Anzeichen vorhanden sind, daß Serbien die österreichische Note nunmehr bedingungslos annehmen wollte.
Paris, 27. Juli. Eine Depesche aus Petersburg meldet, daß zwischen dem Zaren und Kaiser Wilhelm ein Depeschenaustausch stattgefunden habe. Man mißt dieser Tatsache in Bezug auf die Erhaltung des Friedens große Bedeutung bei.
London, 28. Juli. Im Unterhause fragte Bonar Law an, ob Asquith irgendwelche Informationen über die europäische Lage zu geben hätte. Asquith erklärte, daß keine Entwicklungen eintraten, die genügend bestimmt seien, um irgendeine weitere Erklärung zu ermöglichen. Die Regierung hoffe jedoch, daß hieraus kein ungünstiger Schluß gezogen werde. – Wie die Blätter melden, sind im Hafen von Porthmouth zur Zeit 29 Schlachtschiffe, 4 Schlachtkreuzer und 9 andere Kreuzer der ersten Flotte. Sie nahmen die Nacht über Kohlen ein. Kriegsmaterial und Proviant, das für mehrere Wochen ausreicht, wird ebenfalls eingenommen werden. Bis die internationale Lage sich geklärt hat, wird auf den Schiffen der ersten Flotte kein Urlaub erteilt werden. Wie es in kritischer internationaler Situation üblich ist, hat die Admiralität gestern die übliche Liste der Schiffsbewegungen nicht ausgegeben.
Paris, 28. Juli. Wie verlautet, wird Präsident Boincare morgen Nachmittag sofort nach seiner Ankunft einem Ministerrat vorsitzen.
Konstantinopel, 28. Juli. Der griechische Gesandte erklärt, daß Griechenland im Falle eines österreichischen Angriffs auf Serbien verpflichtet wäre, den Serben mit 100 000 Mann zu Hilfe zu kommen. Die Sympathiekundgebungen für Österreich dauern in deutschen Städte immer noch fort, während besonders in Petersburg und Moskau die Stimmung für Serbien hervorherrscht. Nach Nachrichten aus vielen amerikanischen Städten rüsten sich Tausende von österreichischen und ungarischen Reservisten in Erwartung des unmittelbaren Ausbruchs der Feindseligkeiten für die Abreise.
London, 28. Juli. Wie das Reutersche Bureau erfährt, hat das Auswärtige Amt heute die Mitteilung erhalten, daß Rußland im Prinzip dem englischen Konferenzvorschlag zuftimmt. Gleichzeitig wünscht Rußland den direkten Meinungsaustausch, mit Wien fortzusetzen.
Wien, 29. Juli. Die ,,Wiener Allgemeine Zeitung“ schreibt anscheinend nach Informationen von besonderer Seite: Über die Haltung Rußlands ist zur Stunde hier nichts bekannt. Die Nachricht, daß die russische Regierung irgendwelche Mobilisierungsordres erteilt habe, hat bisher noch keine Bestätigung gefunden. Wir und auch die übrigen Mächte sind durch unsere Vertreter am Petersburger Hofe über die Vorgänge in Rußland, soweit sie sich nicht überhaupt der Kenntnis entziehen, vollkommen unterrichtet. Es ist aber unmöglich, irgendwelche Prognosen zu stellen. Die politische Situation ist ja heute der Art, daß sich das Bild in kürzester Zeit zu verschieben vermag, weshalb es nicht angeht, auch nur für die nächsten Tage etwas bestimmtes Vorauszusagen. Vorläufig bewegt sich der Verkehr zwischen Rußland und Österreich auf der gewohnten freundschaftlichen Basis.
Berlin, 28. Juli. Die heutigen 27 ProtestversammIungen der Sozialdemokraten gegen den Krieg sind bei starkem Besuch im allgemeinen ohne Zwischenfall verlaufen. Nach Schluß der Versammlungen begaben sich Tausende von Teilnehmern Unter die Linden, wo zunächst ein ruhiger Demonstrationsspaziergang unternommen wurde. Plötzlich stießen mehrere Demonstranten Rufe aus: „Nieder mit dem Krieg“, die jedoch bald durch die Hochrufe des auf den Bürgersteigen versammelten Publikums auf Österreich und Deutschland übertönt wurden. Es artete zu einem förmlichen Kampf zwischen Sozialdemokraten und Schutzleute aus, obwohl die Linden für alle Aufzüge von der Polizei verboten wurden. Die Versammlungsteilnehmer erschienen zu Fuß und zu Wagen und in Automobilomnibussen. Die Schutzleute ritten mitten unter die Menge und diese versuchte, sich auf die Trottoire zu flüchten, wohin ihnen die Schutzleute folgten. – In der Nähe der russischen Botschaft kam es zu einer neuen großen Ansammlung, wobei das Arbeiterlied gesungen und Rufe „Nieder mit dem Krieg“ ausgebracht wurden. Die bürgerlichen Zuschauer verfolgten die Vorgänge mit lauten Rufen der Entrüstung. Es gelang den Schutzleuten, die Linden zu säubern, doch leisteten die Demonstranten passiven Widerspruch und es mußten mehrere Verhaftungen vorgenommen werden.
Berlin, 28. Juli. Auf der Pariser Börse fand heute ein geradezu ungewöhnlicher Kurssturz statt. Die Bedeutung dieses Vorgehens erhellt daraus, daß Berliner maßgebende Finanzkreise von dieser Tatsache nicht nur überrascht, sondern über sie aufs höchste bestürzt sind. Man fragt sich hier, welche unbekannte Ursache dieses Ereignis herbeigeführt hat und ob dieses nicht in militärischen Vorkehrungen Frankreichs zu suchen ist. Diese und andere Tatsachen ließen heute in Berlin die Stimmung höchst pessimistisch erscheinen.
Kiew, 28. Juli. Vor dem Denkmal Alexander III. und in verschiedenen Stadtteilen fanden serbenfreundliche Kundgebungen mit patriotischen Reden statt.




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